Viele Institutionen haben das System Brechmittel ermöglicht und mitgetragen. Ohne Zustimmung oder zumindest Duldung all dieser Institutionen wäre dieses System nicht möglich gewesen. Alle Institutionen agierten dabei auf ähnliche Weise: die Vergabe von Brechmitteln sollte geräuschlos und reibungslos vonstatten gehen.
So war die Maßnahme zwar „Beweissicherungsalltag“, wie der frühere Bürgermeister Scherf in seiner Aussage vor dem Bremer Landgericht 2013 zu Protokoll gab. Es gab aber von Seiten der verantwortlichen Akteur*innen nahezu keine Diskussion darüber – schon gar keine kritische:
Der damalige Bürgermeister und Justizsenator Scherf verbat sich bereits in den 1990er Jahren bei den wenigen Malen, in denen die Vergabe von Brechmitteln im Senat bzw. der Bürgerschaft zur Sprache kamen, jede Kritik oder öffentliche Diskussion: So maßregelte er die Gesundheitssenatorin und SPD-Parteigenossin Wischer, als diese (zarte) Bedenken an der Brechmittelvergabe äußerte, und forderte sie zum Schweigen auf; eine Nachfrage aus der SPD-Bürgerschaftsfraktion wies er 1996 ebenfalls zurück.
Innerhalb der Justiz wurden die im Rahmen der Brechmittelvergabe sichergestellten Substanzfunde routinemäßig in die Verfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) als Beweise eingeführt. Ebenso routinemäßig verweigerte die Justiz aber jede Überprüfung, ob diese Beweise auf rechtsstaatliche Weise erworben worden waren.
Aus medizinischer Sicht erteilte die damalige Präsidentin der Ärztekammer mit einem einfachen Schreiben dem gesamten Verfahren grünes Licht: Zwar wende sich die Ärztekammer „grundsätzlich im Zusammenhang ärztlicher Tätigkeit gegen Gewaltmaßnahmen“. Würden Ärzt*innen jedoch an staatlichen Gewaltmaßnahmen mitwirken, „verletzen sie damit das ärztliche Berufsethos nicht“.
Und so gab schließlich auch Dr. Birkholz, der für fast 10 Jahre medizinisch hauptverantwortlich war für die Durchführung der Brechmittelvergabe, nach der Tötung von Laye Cöndé ein weiteres Beispiel des Beschweigens und der Gleichgültigkeit. Von der taz nach der Anzahl gewaltsamer Brechmittelvergaben befragt, sprach Birkholz von möglicherweise vier Fällen für das Jahr 2004; „genau sei das aber nicht bekannt, denn seine Ärzte berichten nur über medizinische Maßnahmen“.
Funktionierte das Verschweigen der Brechmittelpraxis nicht, konnte das „System Brechmittel“ schnell auf Einschüchterung und Kriminalisierung setzen. So schrieb das Anti-Rassismus Büro Bremen (ARAB) 1995 einen Offenen Brief an Justizsenator Scherf mit der Forderung, die Maßnahme zu stoppen, und dokumentierte in der Broschüre „Polizisten, die zum Brechen reizen“ u.a. Berichte von Betroffenen. Gegen Mitarbeiter*innen des ARAB wurde daraufhin gerichtlich wegen „Volksverhetzung“ vorgegangen; die Broschüre wurde im Rahmen einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt.
Als sich 1997 amnesty international der massiven Kritik an der Brechmittelvergabe anschloss, wurde auch diese Kritik in keinem Moment ernsthaft verhandelt. Der damalige Innensenator Borttscheller (CDU) ließ sich hingegen wie folgt zitieren: „Völlig unkritisch und ungeprüft hat amnesty die Vorwürfe einer linksextremistischen Organisation übernommen.“
Auch nachdem die Praxis der Brechmittelvergabe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2006 verboten worden war, hielt das Beschweigen der Vergabepraxis durch die Verantwortlichen noch jahrelang an. Als die Forderungen aus der Zivilgesellschaft nach Aufarbeitung nicht mehr zu überhören waren, handelten die Vertreter_innen aus Politik, Polizei, Justiz und Medizin wiederum einmütig: Sie zeigten sich nun darin einig, dass eine Notwendigkeit bestehe, Verantwortung für die Brechmittelvergabe und den Tod Laye Condés zu übernehmen. Aber ihre Finger zeigten dabei auf die jeweils anderen Akteur*innen. Wo früher alle an einem Strang gezogen und damit die Betroffenen zum Würgen gebracht hatten, wollte Jahre später plötzlich niemand mehr dabei oder dafür gewesen sein. Diese Verantwortungsdiffusion bestimmte über viele Jahre hinweg die Stellungnahmen aus Politik, Polizei, Justiz und Medizin.
Einige Beispiele aus diesem Verantwortungs-Karussell:
- Der heutige Innensenator Mäurer – zur Zeit der Tötung Laye Condés als Staatsrat für Justiz und Verfassung bereits in verantwortlicher Position; kurz vor der Tötung hatte er sich noch bei „Polizeibeamten und Ärzten“ für ihren Einsatz bei der Brechmittelvergabe mit den Worten bedankt, diese „schaffen mit der Erledigung dieser unappetitlichen Aufgabe die Voraussetzung dafür, dass die Täter bestraft werden können“ – führt in der erwähnten Polizei-Broschüre an, er habe sich auf die Justiz und die Bremer Ärztekammer verlassen.
- Die Polizeibeamten, die an der Tötung Laye Condés aktiv beteiligt waren, sagen vor dem Bremer Landgericht aus, der angeklagte Arzt Igor V. hätte die Maßnahme ja jederzeit abbrechen können.
- Eben jener Arzt wie auch sein Chef Birkholz lassen vor Gericht verlauten, sie wären zu den Brechmitteleinsätzen gezwungen gewesen – anderenfalls hätte die Staatsanwaltschaft mit Strafverfolgung gedroht. Zudem hätte auch die Ärztekammer keine Einwände gegen die Vergabe von Brechmitteln gehabt.
- Die Bremer Ärztekammer wiederum behauptet heute, sie sei schon immer gegen die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln gewesen.
- Der ehemalige Bürgermeister und Justizsenator Henning Scherf kommentiert 2013 vor dem Bremer Landgericht die von ihm unterschriebenen Briefe, die ihn als klaren Hardliner der Brechmittelfolter zeigen, dass er selbstverständlich nicht gelesen habe, was er da unterschrieben habe. Verantwortlich seien die ihm untergebenen und zuarbeitenden Juristen gewesen.
- Das Landgericht Bremen schließlich schlägt im November 2013 dem Fass den Boden aus: In der Begründung zur Einstellung des Prozesses gegen den Polizeiarzt spricht das Landgericht nun plötzlich davon, dass „ein etwaiges Fehlverhalten Dritter oder auch ein Versagen der Politik“ vorläge. Diese Erkenntnis kommt zu spät und dient dem Gericht an dieser Stelle ausschließlich dazu, den Angeklagten zu entlasten und die Einstellung des Prozesses zu rechtfertigen. Über acht Jahre hinweg hatte die Bremer Justiz keinerlei Schritte unternommen, die Polizeibeamten oder den Chef des Ärztlichen Beweissicherungsdienstes anzuklagen – obwohl ihr das vom Bundesgerichtshof in den Revisionsurteilen mehr als nahe gelegt worden war.
13 Jahre Brechmittelfolter in Bremen sind ohne konkret Verantwortliche und ohne den politischen Willen der Beteiligten nicht zu denken – und wären auch niemals möglich gewesen. Die Multidimensionalität des tödlichen „Systems Brechmittel“, das komplexe Zusammenspiel aus rassistischer Polizeigewalt, irrationaler Drogenpolitik, obrigkeitsstaatlichem Gehorsam, ärztlicher Profilierungssucht und juristischer Gleichgültigkeit muss benannt und aufgearbeitet werden, ebenso die Entlastungsstrategien der jeweils Verantwortlichen.