13 Jahre Brechmittelfolter
Der Weg zum offiziellen Gedenkort
Die Bremische Bürgerschaft hat 2020 beschlossen, einen Gedenkort zu errichten. Dafür wurde eine Auswahl-Kommission gebildet und ein künstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben. Hier unsere Pressemitteilung vom 07.11.2023 zur Bekanntgabe des ausgewählten Entwurfs.
Gedenktag 7. Januar 2024
Entschädigung für alle Betroffenen!
Laye Condé wurde durch die Vergabe von Brechmitteln getötet. Alle anderen Betroffenen haben diese Foltersituation unter Schädigung ihrer physischen und psychischen Gesundheit überlebt. Sie haben ebenso ein Recht auf Entschädigung.
Kein Einzelfall
Ausgewählte Medienberichte
Über die Jahre sind viele Artikel zum Thema Brechmittelfolter und Laye Condé erschienen. Hier eine Auswahl mit dem Schwerpunkt institutioneller Rassismus, Verantwortung, Aufarbeitung.
Brechmittelfolter
1991 – 2006
- 1991 In Bremen spritzt der Polizeiarzt Männche ohne offiziellen Auftrag in Eigenregie Betroffenen zum ersten Mal Brechmittel.
- 1992 Die Brechmittelvergabe wird durch die Bremer Ampelkoalition (SPD, FDP, Grüne) institutionalisiert. In den kommenden drei Jahren werden über 400 Mal Brechmittel an Betroffene verabreicht.
- 1995 Abu Bakah Jalloh aus Wuppertal wehrt sich mit einer Beschwerde juristisch gegen die an ihm verübte zwangsweise Brechmittelvergabe.
- 1995 Das Anti-Rassismus-Büros Bremen (ARAB) schreibt einen Offenen Brief an Justizsenator Scherf mit der Forderung, die Praxis zu stoppen, und dokumentiert Berichte von Betroffene in der Broschüre »Polizisten, die zum Brechen reizen«. Gegen zwei Mitarbeiter*innen des ARAB wird daraufhin wegen „Volks-verhetzung“ ermittelt, die Broschüre wird im Rahmen einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt.
- 1991-1995 Das ARAB gegen stellt gut ein Dutzend Strafanzeigen gegen Beteiligte des Systems Brechmittel. Alle Ermittlungs-verfahren werden von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
- 1995 Oberstaatsanwalt Frischmuth erklärt die Brechmittelvergabepraxis – trotz kritischer Stimmen von Ärzt*innen und Betroffenen – für legitim und ordnet deren Fortsetzung an.
- 1996 Die Bremer Ärztekammer erklärt die Vergabe von Brech-mitteln schlussendlich für „vereinbar mit dem ärztlichen Berufsethos“.
- 1996 Das Oberlandesgericht Frankfurt/Main entscheidet, dass der Einsatz von Brechmitteln zur Beweissicherung rechtswidrig ist, denn er geschehe „gänzlich ohne gesetzliche Grundlage“ und sei durch die Strafprozessordnung nicht gedeckt.
- 1999 Abu Bakah Jalloh legt Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein. Das BVerfG lehnt die Annahme der Beschwerde aus formalen Gründen ab und führt aus, dass Brechmitteleinsätzen „in Hinblick auf die Menschenwürde […] keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken“ entgegenstünden. Das BVerfG äußert sich explizit nicht dazu, „inwieweit eine zwangsweise Verabreichung mit Blick auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zulässig ist“.
- 2000 Herr Jalloh wendet sich mit einer Individualbeschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) .
- 2001 Achidi John wird am 12. Dezember in Hamburg bei einer zwangsweisen Brechmittelvergabe getötet. Einen Tag später stellt das BVerfG in einer Pressemitteilung klar, dass es – entgegen anders lautenden Presseberichten – 1999 nicht die Verfassungskonformität der zwangsweisen Brechmittel-vergabe festgestellt habe.
- 2001 Am 13. Dezember stellt die Fraktion der Grünen in der Bremer Bürgerschaft den Antrag, die Praxis der Brechmittelvergabe sofort zu beenden. SPD, CDU und DVU lehnen ab. Die zwangsweise Brechmittelvergabe wird fortgesetzt.
- 2005 Bis zu diesem Jahr werden in Bremen insgesamt über 1.000 Brechmitteleinsätze durchgeführt. Bremen ist der Geburtsort und die Hauptstadt der Brechmittelfolter.
- 2005 Laye Alama Condé stirbt in Bremen an den Folgen eines Brechmitteleinsatzes unter Zwang. Die Bürgerschaft setzt die Brechmittelvergabe aus.
- 2006 Der EGMR gibt der Beschwerde von Herrn Jalloh (11 Jahre nach seiner ersten Beschwerde) statt und stellt fest: Die Brechmittelvergabe ist unmenschlich und erniedrigend, sie verstößt gegen das Folterverbot.
Laye Condé
1969 – 2005
- 1969 Laye Condé wird in Kabala/Sierra Leone als erstes Kind seiner Familie geboren. Er hat mehrere Geschwister.
- 2000 Im Alter von 31 Jahren entschließt er sich aufgrund der politischen und sozial-ökonomischen Situation vor Ort nach Europa zu fliehen.
- 2001 Laye Condé kommt in Hamburg an und wird nach Bremen umverteilt. Sein Asylantrag wird abgelehnt.
- 2001-2004 Laye Condé lebt in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete am Stadtrand Bremens. Seine Mitbewohner und Freunde beschreiben ihn als einen ruhigen, politisch interessierten Menschen. Er unterliegt einem Arbeitsverbot und darf Bremen nicht ohne schriftliche Erlaubnis der Ausländerbehörde verlassen.
- 2004 Am Abend des 27. Dezember wird Laye Condé von zwei Neustädter Polizisten im Viertel festgenommen und ins Polizeigewahrsam verschleppt. Dort unterzieht ihn der Arzt Igor V. unter Mithilfe der beiden Polizisten einer qualvollen Brechmitteltortur: Über sieben Liter Brechsirup und Wasser werden ihm gegen seinen Willen über eine Magensonde durch die Nase eingeflößt. Auch nachdem Laye Condé bereits ins Koma gefallen ist, wird die Folter weiter vollzogen, da Arzt und Polizisten von einer Simulation überzeugt sind. Erst nach über zwei Stunden wird Laye Condé in ein Krankenhaus eingeliefert, wo ein Lungenödem und eine Hirnschädigung festgestellt werden.
- 2005 Am 7. Januar stirbt Laye Condé im Bremer St. Joseph-Stift an „celebraler Hypoxie als Folge von Ertrinken nach Aspiration bei forciertem Erbrechen“. Laye Condé wurde staatlicherseits durch die gewaltvolle Vergabe von Brechmitteln ertränkt.
- Seit 2006 Zum Todestag von Laye Condé finden jährlich öffentliche Gedenkveran-staltungen in Bremen statt.
Bremer Prozesse
2006 – 2013
- 2006 Die Staatsanwaltschaft Bremen erhebt Anklage gegen Igor V., den Mitarbeiter des Ärztlichen Beweissicherungsdienstes. Tatvorwurf: Fahrlässige Tötung.
- 2007 Im Zuge eines außer-gerichtlichen Vergleichs zahlt die Stadt Bremen 10.000 Euro an die Mutter von Laye Condé – Schmerzensgeld, das Herrn Condé selbst zugestanden hätte. Die Höhe der Zahlung orientiert sich an dem Betrag gleicher Höhe, den das EGMR 2006 Abu Bakah Jalloh zugesprochen hatte.
- 2008 Vor dem Bremer Landgericht beginnt der erste Brechmittelprozess gegen den Arzt in Anwesenheit von Fatma Tarawalli, der Mutter von Laye Condé, und seinem Bruder Namantjan Condé. Der Prozess endet mit einem Freispruch des Angeklagten. Igor V. habe zwar „objektive fachliche Fehler“ begangen, die für den Tod von Laye Condé „ursächlich“ waren. Doch sei Igor V. „wegen fehlender Erfahrung überfordert“ gewesen und somit „weit entfernt vom Leitbild eines erfahrenen Facharztes, an dem sich die Rechtsprechung bei Fahrlässigkeitsdelikten als Maßstab orientiert“. Die Anwältin von Frau Tarawalli legt Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ein.
- 2010 Der BGH gibt der Revision statt und verweist das Verfahren zurück an das Bremer Landgericht. Es legt nahe, dass sich neben Igor V. möglicherweise weitere Beteiligte vor Gericht verantworten müssten und dass der Fall als Körperverletzung mit Todesfolge bewertet werden müsse (ein schwerwiegenderer Straftatbestand).
- 2011 Im März beginnt der zweite Brechmittelprozess, im Juni endet er wieder mit dem Freispruch des Arztes. Die Begründung nun: Die Todesursache sei nicht eindeutig zu klären – auch wenn viel dafür spreche, dass Laye Condé langsam ertrunken sei. Die Anwältin von Frau Tarawalli geht zum zweiten Mal in Revision vor den BGH.
- 2012 Der BGH kassiert das Urteil des Bremer Landgerichts erneut und bezeichnet es als „fast grotesk falsch “.
- 2013 Im April beginnt der dritte Brechmittelprozess. Mit dem ehemaligen Bürgermeister Scherf wird Monate später zum ersten Mal ein verantwortlicher Politiker als Zeuge vernommen. Er bezeichnet die Brechmittelvergabe als „Beweissicherungsalltag“. Im November wird der Prozess wegen der Verhandlungsunfähigkeit von Igor V. gegen Auflage endgültig eingestellt . Der Angeklagte muss € 20.000 an Frau Tarawalli zahlen.
- Seit 2010 ist „der Fall Laye Condé“ ein Teil juristischer Ausbildung an Universitäten. Die drei Bremer Brechmittelprozesse haben Rechtsgeschichte geschrieben – auch deshalb, weil der Revision der Nebenklage in einem Strafprozess durch den BGH zwei Mal stattgegeben wurde. Dies ist bis heute einmalig in der Bundesrepublik.
Schritte zur Aufarbeitung
- 2005 Eine Woche nach Laye Condés Tod demonstrieren knapp 2.000 Menschen in Bremen gegen rassistische Polizeigewalt.
- Seit 2006 Zum Todestag von Laye Condé organisieren Aktivist*innen öffentliche Gedenkveranstaltungen in Bremen. In den ersten Jahren mobilisiert maßgeblich die „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten“.
- Ab 2013 Die Initiative in Gedenken an Laye Alama Condé fordert einen dauerhaften öffentlichen Gedenkort für Herrn Condé und die zwangsweise Brechmittelvergabe sowie eine materielle Entschädigung an alle Betroffenen der Brechmittelfolter.
- 2013 Von April bis September begleitet die Initiative den dritten Brechmittelprozess als Prozessbeobachterin und dokumentiert ihn kontinuierlich in Prozessberichten.
- 2013 Im Juni demonstrieren hunderte Aktivist*innen gegen die drohende Einstellung des dritten Bremer Brechmittelprozesses wegen „geringfügiger Schuld“ des Arztes.
- 2013 Im September stellt die Initiative in Gedenken an Laye Condé bei der Staatsanwaltschaft Bremen Strafanzeige gegen Ex-Bürgermeister Scherf wegen des Verdachts auf falsche uneidliche Aussage. Er hatte als Zeuge im dritten Brechmittelprozess behauptet, dass es »niemals irgendeine Kritik oder irgendwelche Probleme« mit der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln in Bremen gegeben habe. Vom Tode Achidi Johns durch Brechmittel in Hamburg wollte Scherf erst nach dem Tod Laye Condés erfahren haben. Die Initiative legt in ihrer Anzeige mehrere Beweismittel vor.
- Ab 2013 wendet sich die Initiative per Brief an politisch Verantwortliche und führt unzählige Hintergrundgespräche mit Ortsbeiräten, Bürgerschaftsmitgliedern und Funktionären von Grünen, Linken, SPD, dem Polizeipräsidenten, Vertreter*innen der Ärztekammer, Mitgliedern der Kulturdeputation, Vertretern von öffentlichen Institutionen wie der Direktion des Gerhard-Marcks-Hauses, dem Intendanten des Theaters Bremen – und vielen anderen mehr.
- 2014 Im Januar übernimmt Bremens Polizeipräsident Lutz Müller anlässlich des 9. Todestages öffentlich die Verantwortung für Laye Condés Tod und bittet bei seiner Mutter, Fatma Tarawalli, schriftlich um Entschuldigung. Er legt die Broschüre „Der Tod von Laye-Alama Condé“ vor. Kurze Zeit später erklärt auch Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen öffentlich sein Bedauern über den Tod von Herrn Condé.
- 2014 Im März formuliert die Grünen-Fraktion in der Bremer Bürgerschaft einen Antrag zur Aufarbeitung der Brechmittelvergabe: „Tod nach Vergabe von Brechmitteln. Verantwortung und Konsequenzen“. Die Koalitionspartnerin SPD unterstützt den Antrag nicht; dieser wird deshalb nicht in die Bürgerschaft eingebracht.
- 2014 Über einen Strafverteidiger können Kontakte zu mehreren Betroffenen der Brechmittelfolter hergestellt werden. Sie berichten in Interviews über ihre schmerzhaften Erfahrungen und erklären sich zu deren Veröffentlichung bereit.
- 2014 Im Juni organisiert die Initiative in Gedenken an Laye Alama Condé auf dem Bremer Marktplatz das öffentliche Hearing „Wer war beteiligt an der Tötung von Laye Condé? “.
- 2014 informiert die Initiative auf öffentlichen Veranstaltungen über das 13 Jahre lang währende „System Brechmittelfolter“ sowie ihre Forderungen nach einem Gedenkort und der Entschädigung für alle Betroffenen von Brechmittelfolter.
- 2015 Zusammen mit den beiden Künstlerinnen Doris Weinberger und Jule Körperich legt die Initiative in Gedenken an Laye Condé einen künstlerischen Entwurf für einen Gedenkort vor.
- 2016 Auf der jährlichen Gedenkveranstaltung zum Todestag Laye Condés tragen Schauspieler*innen des Ensembles des Theaters Bremen die Berichte der Brechmittel-Betroffenen vor.
- 2017 Bremens ehemaliger Bürgermeister Scherf äußerst sich erstmals selbstkritisch zu seiner Rolle als hauptverantwortlicher Politiker: Er fühle sich schuldig, dass er den Tod Laye Condés möglich gemacht habe und es belaste ihn schwer, dass in seinem Verantwortungsbereich ein Mensch in Polizeigewahrsam zu Tode gekommen ist. „Wir haben uns in ein System von Handlungsanweisungen verstrickt“, so der langjährige Brechmittel-Hardliner.
- 2017 Die Initiative in Gedenken an Laye Condé installiert einen Mobilen Gedenkort, der seitdem an unterschiedlichen Plätzen aufgestellt wird. Die Erinnerung an Laye Condé und die zwangsweise Brechmittelvergabe wird im öffentlichen Raum zunehmend sichtbar.
- 2017 Im Dezember stellt die Fraktion der Grünen eine Große Anfrage an den Bremer Senat: „Menschenrechtswidrige Brechmittelvergabe: Verantwortung und Konsequenzen“.
- 2018 Im Februar beantwortet der Senat die Anfrage und bezeichnet die jahrelange Praxis der Brechmittelvergabe für ein damals „rechtlich nicht zu beanstandendes Verfahren“ und führt aus, dass ihm keine Bewertung vorliege, „nach welcher der zwangsweise Brechmitteleinsatz während der gesamten Laufzeit der Maßnahme als unrechtmäßige staatliche Gewalt anzusehen sei […]“. Erstmals äußert der Senat aber auch sein „Bedauern“ und führt aus, Laye Condés Tod sei„vermeidbar“ und das Festhalten an der Brechmittelfolter 2001 eine „tragische und bedauerliche Fehlentscheidung“ gewesen. Die Behauptung, es habe rassistisches Denken und Handeln der Strafverfolgungsbehörden gegeben, weist der Senat jedoch „entschieden zurück“.
- 2018 Im März veröffentlicht die Initiative in Gedenken an Laye Alama Condé eine Kommentierung , in der sie die inhaltlichen Fehler und Schwachstellen der Antwort detailliert darlegt, und händigt diese allen Bürgerschaftsabgeordneten aus.
- 2019 Auf der jährlichen Gedenkveranstaltung zum Todestag Laye Condés wird der Kurzfilm „Tötung mit Ansage“ auf Großbild-Leinwand vorgestellt.
- 2019 Im Juli vereinbaren Grüne, Linke und SPD in ihrem Koalitionsvertrag: „Die Koalitionspartner sprechen sich anlässlich des Todes von Laye-Alama Condé am 7. Januar 2005 in Folge zwangsweise verabreichter Brechmittel im Polizeigewahrsam für die Errichtung eines Gedenkortes aus, um daran zu mahnen, dass niemand in polizeilicher Obhut nachhaltig zu Schaden oder ums Leben kommen darf“.
- 2020 Im Juli stellt die Regierungskoalition (Grüne, Linke, SPD) in der Bürgerschaft den gemeinsamen Antrag : „Menschenrechtswidrige Brechmittelvergabe: Verantwortung übernehmen und einen Ort des Gedenkens und Mahnens schaffen“. Im Dezember stimmt die Bremer Bürgerschaft diesem Antrag mehrheitlich zu.
- 2021 Die Kulturdeputation beginnt mit den Beratungen über die bundesweite Ausschreibung des Gedenkortes an Künstler*innen. Mit der Ausschreibung sollen gezielt Schwarze Künstler*innen und Künstler*innen of Color angesprochen werden, da die Dimension des Rassismus in der künstlerischen Ausgestaltung des Gedenkortes zentral zum Ausdruck kommen soll.